Heft 3 / 2008: "Was heißt normal? Zum Verhältnis von Sexualität und Gesellschaft"

Sven Lewandowski

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Diesseits des Lustprinzips – über den Wandel des Sexuellen in der modernen Gesellschaft

Der vorliegende Essay analysiert sexuelle Wandlungsprozesse aus gesellschafts- und insbesondere systemtheoretischer Perspektive und führt diese auf die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft zurück. In idealtypischer Weise werden zentrale Leitunterscheidungen und Schemata diskutiert, die das Verhältnis der abendländischen Gesellschaften zum Sexuellen bestimm(t)en. Gezeigt wird dabei, dass sich die Sexualität der modernen Gesellschaft im Wesentlichen an der Differenz Begehren/ Befriedigung sowie am Orgasmusparadigma orientiert und eine Umstellung auf einen Primat sexueller Lust, mithin auf Selbstreferenz stattgefunden hat. Illustriert wird diese Umstellung schließlich an den Phänomenen Selbstbefriedigung, Pornographie und Prostitution, deren Entwicklungen jeweils zum sexuellen Wandel beitragen als auch dessen Ausdruck sind.

Within the Pleasure Principle – on the Social Change of Sexuality in Modern Society

The following essay analyses processes of sexual change from a social theoretical and especially systems theoretical perspective, and connects these to forms of differentiation in modern society. In an ideal-typical understanding the leading role differences and schemes, which determine(d) the relationship of occidental societies and of the sexual, are being discussed. It is shown that sexuality in modern society is mainly oriented towards the difference of desire/ satisfaction and the paradigm of orgasm. A shift in favour of the primate of sexual pleasure and sexual self-reference occurred. This change is being illustrated by analysing phenomena such as masturbation, pornography and prostitution – all of them contributing to sexual change as well as representing indicators for such trends.

Claudia Schwarz / Florian Röthlin / Wolfgang Plaschg

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Aber bitte mit Schlag! Zur Legitimation von Lust, Macht und Gewalt in der SM-Szene

Sadomasochismus (SM) gilt aufgrund seiner Pathologisierung durch die Sexualwissenschaft als Perversion. Da SM aber seit den 1960er-Jahren vermehrt in Kunst und Medien thematisiert wird und sich seit den 1980er-Jahren eine sichtbare SM-Szene entwickelt, kann vermutet werden, dass SM bereits einen Platz im öffentlichen Bewusstsein erlangt hat und die Zone der Tabuisierung verlässt. Neben der privaten Praktizierung von SM existiert heute eine weitgehend informelle SM-Szene mit SM als wesentlichem Vergemeinschaftungselement. Dennoch ist das Verhältnis von SM zur Mehrheitsgesellschaft nicht völlig unproblematisch. Das zeigt sich vor allem am zentralen Thema der Szene, der ritualisierten Verbindung von Lust, Macht und Gewalt, die durch Legitimationsprozesse gestützt werden muss. Genau diese Problematik ist Ausgangspunkt für den Artikel. Als Datenbasis dienen ethnographische Beobachtungen in SM-Lokalen und auf SM-Partys in Wien. Die Analyse zeigt, wie in der SM-Szene durch Symbole, Sprachcodes, Rollenstrukturen und Rituale neue Ordnungssysteme konstruiert werden: Diese ermöglichen es, SM-Praktiken positiv und als Spiel zu konnotieren, die Interaktionen von Risiken zu befreien und Sexualnormen umzudeuten.

But Please Whipped! On the Justification of Lust, Power and Violence in the SM Scene

Sadomasochism (SM) is being regarded as a perversion because of a pathologisation by sexual science. Since the 1960s, however, SM has been increasingly thematised in the arts and media, and beginning with the 1980s a visible SM scene developed. Therefore, it can be assumed that SM established itself in the public awareness and represents – at least to some extent – not a taboo anymore. In parallel to a private practice of SM, exists nowadays an informal SM scene, with SM as an element of communitarisation. Yet, the relationship between the SM scene and society as a whole has not really improved, as is being demonstrated by the central theme of SM scene: the ritualised connection of lust, power and violence. Various justification processes are necessary to deal with this problematic link. The article refers to these circumstances as a starting point and is based on empirical data collected during a three-month period of ethnographic observations at SM parties in Vienna. The analysis demonstrates that symbols, language codes, role structures and rituals are used to construct new systems of order that allow to connote SM practices positively and as »game«, to free interactions from risk, and to re-interpret sexual norms.

Gabriele Schmied / Christine Reidl

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Geschlechterrollen, Sexualität und Aufklärung aus der Sicht männlicher Jugendlicher

Der Artikel basiert auf einer Studie mit dem Ziel, den Zugang für Buben und junge Männer zu außerschulischen sexualpädagogischen Angeboten zu verbessern. Auf Basis von qualitativen Interviews mit männlichen Jugendlichen und Gesprächen mit ExpertInnen in drei österreichischen Bundesländern werden die Einstellungen der Burschen zu Geschlechterrollen, Partnerschaft, Beziehungen und Sexualität geschildert und ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Informationsquellen zum Thema Sexualität beschrieben. Die Ergebnisdarstellung berücksichtigt besonders Unterschiede nach Bildungsstatus und kulturellem bzw. Migrationshintergrund der Jugendlichen. Burschen aus ressourcenarmen Elternhäusern bzw. mit Migrationshintergrund verfügen häufig über unzureichende Informationsquellen, fühlen sich einem höheren Druck ausgesetzt, frühzeitig sexuell aktiv zu werden und haben sehr traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit. Der Artikel kommt zum Schluss, dass diese Jugendlichen verbesserte maßgeschneiderte sexualpädagogische Angebote brauchen, und formuliert Anregungen für eine geschlechts- und kultursensible Sexualpädagogik, die den Bedürfnissen dieser Jugendlichen gerecht wird.

Gender Roles, Sexuality and Sexual Education from the Perspective of Male Adolescents

The article is based on a study, interested in enhancing the access of boys and young men to extracurricular sexual education. The results of qualitative interviews with male adolescents and experts in three Austrian provinces provide the grounding for describing the views of boys on gender roles, partnership, relations and sexuality. Their experiences with diverse sources of knowledge, regarding sexuality, are reported. Particular emphasis is placed on differences between boys from different educational, cultural and migrant/ non-migrant backgrounds. The article concludes that migrant boys or boys from socially disadvantaged families often do not have access to sufficient sources of information, experience considerable pressures to be sexually active at an early age, and assume rather traditional concepts of masculinity. Finally, the article infers that there exists a demand for specifically-tailored offerings and formulates suggestions for a sexually and culturally sensitive sexual education for boys that accommodates the needs of these young people.

Katharina Miko

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Sexing the Family – Aushandlungsprozesse über geschlechtliche und sexuelle Identitäten in der Familie und ihre (rechtlichen) Konsequenzen

Der Artikel beleuchtet den Einfluss veränderter Sexualitätsvorstellungen auf das System Familie. Die zentrale Fragestellung bezieht sich auf die Veränderung der impliziten Eckpfeiler der Familiendefinition. Diese sind konkret die heterosexuelle Orientierung, die Monogamie auf Lebenszeit, die sexuelle Beziehung zwischen den Eltern, der gemeinsame Haushalt sowie die biologische Verwandtschaft mit den Kindern. Neuere familiensoziologische Strömungen aus dem angloamerikanischen Raum zeigen, dass empirische Studien vermehrt folgenden Schluss nahe legen: Die gängige Familiendefinition erfasst die soziale Praxis, d. h. das konkrete Alltagsleben der Familien, nur unzureichend. Der Artikel zeigt, dass Veränderungen in der Bewertung von Sexualität zum einen den familiären Alltag beeinflussen und dass diese Veränderungen zum anderen auch wieder rechtliche Implikationen haben.

Sexing the Family – Negotiating Gender and Sexual Identities in Families and their Legal Consequences

The article explores the influence of changed concepts of sexuality on the family system. The key question focuses on alterations of implicit foundations of the family definition. More specifically, these are: heterosexual orientation, lifelong monogamy, the sexual relationship between the parents, and the joint household community and biological kinship with the children. Recent family-sociological trends in the Anglo-American countries show that empirical studies increasingly indicate the following conclusion: the conventional family definition addresses the social practice, i.e. the concrete everyday life of families, only insufficiently. The article reveals that changes in the evaluation of sexuality impact the daily routine of families and, in addition, imply also legal consequences.

Martin Weichbold

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Was ist eine »gute« Umfrage?

Der Beitrag geht der Frage nach, wie die Qualität einer Umfrage beurteilt werden kann. Es gibt sehr unterschiedliche Ansätze, die sich in der Konzeption von Qualität und in der Umsetzung dieser Konzeption unterscheiden. In diesem Zusammenhang werden folgende Herangehensweisen erörtert: die klassischen Gütekriterien, die einer inhaltlichen Definition als Abweichung von einem wahren Wert folgen; Codes of Ethics, die sich auf die moralische Verantwortung der WissenschafterInnen beziehen; Standards bzw. Richtlinien, die den Forschungsprozess in viele Einzelschritte zergliedern; und die Qualitätssicherung mittels Zertifizierung von Sozialforschungsunternehmen, um Strukturen und Prozesse zu kontrollieren. Schließlich wird mit dem Total Survey Error ein integratives Konzept vorgestellt, das inhaltliche und prozessorientierte Qualitätskonzeptionen verbindet. Insgesamt zeigt sich, dass die Frage nach der Qualität einer Befragung sehr vielschichtig ist und sich nicht auf einen einzelnen Bewertungsmaßstab reduzieren lässt.

What is a »Good« Survey?

The article deals with the question, how to judge the quality of a survey. There are various approaches that differ considerably with regard to the conceptualisation and implementation of quality. The following concepts are discussed: the classical criteria of validity that follow a contentual definition as a deviation from a true value; Codes of Ethics that refer to the ethical responsibility of scientists; standards or guidelines, which structure the research process in a sequence of individual steps; and quality assurance that leverages certifications by social research organisations to control structures and processes. Finally, the Total Survey Error is being presented as an integrative approach that brings together content-based and process-orientated quality concepts. All in all it can be shown that the quality assessment of a survey represents a complex issue, which cannot be confined to a single rating scale.

Reinhard Bachleitner / Wolfgang Aschauer

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Versteckte Artefakte in Umfragedaten

Raum, Zeit und Befindlichkeit gestalten die Befragungssituation und können das Antwortverhalten massiv beeinflussen. Orte der Befragung wirken als Filter im Sinn einer Auswahl von Befragten und erzeugen Befindlichkeiten, da Befragungsorte Atmosphären vermitteln. Zusätzlich beeinflussen sowohl der Zeitpunkt (günstig vs. ungünstig) als auch der Zeitraum der Untersuchung die Urteile je nach dem Stimmungs- und Meinungsbild der Befragten. Diese Erkenntnisse über den Einfluss von Raum, Zeit und Befindlichkeit sollen sowohl bei der Planung und Durchführung einer Umfrage als auch bei der Auswertung der Daten Berücksichtigung finden. Wird dies weiterhin vernachlässigt, entstehen auch künftig starke Verzerrungen in den Antworten. Eindrücke eines »lügenden Befragten« und das Image »verlogener Statistiken« werden dann weiterhin – und zwar zu Recht – aufrechterhalten bleiben.

Hidden Artefacts in Survey Data

Space, time and mood play a role in structuring a questioning situation and may strongly influence the response behaviour. Physical spaces serve as a filter for selecting samples of respondents and the influencing of their mood due to specific atmospheres. Furthermore, the scheduling of questioning (perceived as favourable vs. unfavourable) and the time period of the survey exercise an effect on the mood and the patterning of the opinions of the respondents. These findings about the influence of space, time and the general mood conditions should be taken into account with regard to the conception of survey designs, the procedures during fieldwork and data analysis. Continued neglect of these issues in survey research may lead to massive response biases in the future. In such a situation, stereotypes of a »lying interviewee« and of »false statistics« will rightly remain relevant.

Markus Pausch

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Die Eurobarometermacher auf der Zauberinsel - Konstruktion einer europäischen öffentlichen Meinung durch Umfrageforschung

Eurobarometer ist das Umfrageinstrument der Europäischen Kommission. Zweimal jährlich werden in allen Mitgliedstaaten Face-to-Face-Befragungen mit jeweils ca. 1.000 Personen durchgeführt. Dabei werden verschiedene Fragen zu unterschiedlichen, die EU betreffenden Themen gestellt – von der Zufriedenheit mit der Demokratie bis hin zu den Zukunftsvorstellungen der EuropäerInnen. Dieser Artikel wirft einen kritischen Blick auf die Eurobarometermacher und deren Umfragen, denn sowohl demokratiepolitisch als auch methodologisch sind Zweifel an der Wissenschaftlichkeit und Objektivität angebracht.

Eurobarometer Makers on a Magic Island – on the Construction of a
European Public Opinion by Survey Research

Eurobarometer is the prime survey instrument of the European Commission. Twice a year, face-to-face interviews with approximately 1,000 persons are being carried out in all EU member states. Different questions on a variety of issues about the EU are asked – for example, satisfaction with democracy and ideas on the future of the Europeans. The article criticizes Eurobarometer from a democratic as well as methodological point of view, and questions the scientific quality and objectiveness of this survey instrument.

Heinz Kienzl

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Arbeitsmarktregulierung – ein Instrument der Konfliktvermeidung

Am Ende des Zweiten Weltkriegs lebten in Österreich rund sieben Millionen Menschen. Heute hat Österreich etwa 8,3 Millionen Einwohner. Der Zuwachs kam nicht dadurch zustande, dass sich die alteingesessenen Österreicher stark vermehrt hätten – es war die Zuwanderung aus vielen Ländern. Die Menschen kamen aus unterschiedlichen Motiven und in unterschiedlichen Schüben nach Österreich. Dass der österreichische Arbeitsmarkt diesen Zuzug relativ krisenfrei bewältigen
konnte, ist zwei Faktoren zu verdanken: Unter Mitwirkung der Gewerkschaftsbewegung wurden einerseits Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum verwirklicht und andererseits der Arbeitsmarkt reguliert. So wurden Konflikte vermieden, wie es sie in anderen europäischen Ländern in den letzten Jahren gab.