Heft 3 / 2016: "Fluchtbewegungen"

Ayse Dursun / Birgit Sauer

Abstracts

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Österreich: Flucht-, Ankunfts- und Alltagserfahrungen

Immer mehr unbegleitete Minderjährige entfliehen dem Krieg und der Armut in ihren jeweiligen Herkunftsländern und kommen nach Europa, um hier Schutz und Sicherheit zu finden. In Österreich, einem wichtigen Transit-, aber auch Ankunftsland für allein reisende Minderjährige, stellten 2015 knapp 8.300 unbegleitete Minderjährige einen Antrag auf Asyl in Österreich. Unsere Forschung untersucht die Flucht-, Ankunfts- und Alltagserfahrungen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die sich entweder im Zulassungs- bzw. Asylverfahren befinden oder bereits über einen Aufenthaltsstatus verfügen. In unserem Artikel stellen wir einerseits die biographischen Fluchtgründe und -erfahrungen von unbegleiteten Minderjährigen dar. Andererseits analysieren wir die strukturelle Ungleichbehandlung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Vergleich zu österreichischen Kindern, die von der Kinder- und Jugendhilfe betreut werden, anhand ihrer Alltagserfahrungen. Neben dem diskriminierenden Zweiklassensystem zeigen unsere Ergebnisse auch die Handlungsmächtigkeit der minderjährigen Asylsuchenden im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Autonomie und dem Bedürfnis nach Bezogenheit und Fürsorge.

Unaccompanied Minor Asylum Seekers in Austria: Escape, Arrival and Everyday Experiences 

An increasing number of unaccompanied minors escape war and poverty in their countries of origin and travel to Europe to seek for protection and safety. Austria is a popular transit country and destination among unaccompanied minors. In 2015, around 8,300 unaccompanied minors lodged an asylum application in Austria. Our research explores the escape, arrival and everyday experiences of unaccompanied minors who are either in the accession process, in the asylum process or already hold an asylum or subsidiary protection. On the one hand, we elaborate on biographical narratives of minors’ escape from their countries and arrival in Austria. On the other hand, based on everyday experiences of unaccompanied minors, we analyze the structural discrimination against unaccompanied minors when being compared with Austrian children under the guardianship of child and youth welfare services. Not least, our data provide empirical evidence not only for discrimination in Austria’s two-class-system but also for the agency of unaccompanied minors who show the will to take control over their lives in a field of tension between longing for autonomy and connectivity and care.

Kaja Kaufmann

Abstracts

Wie nutzen Flüchtlinge ihre Smartphones auf der Reise nach Europa? Ergebnisse einer qualitativen Interview-Studie mit syrischen Schutzsuchenden in Österreich

In der aktuellen Flüchtlingssituation erreicht ein Großteil der MigrantInnen Europa mit einem Smartphone in der Hand. Der Artikel setzt sich vor diesem Hintergrund mit der Frage auseinander, wie syrische Flüchtlinge auf der Reise nach Europa konkret ihre Smartphones nutzen und welche persönliche Bedeutung sie den Geräten dabei zusprechen. Die Ergebnisse der zugrunde liegenden empirischen Studie zeigen eine Vielzahl von Nutzungspraktiken, die sowohl praktischen Zielen als auch der emotionalen Unterstützung dienen, sodass die Geräte als unerlässlich wahrgenommen werden. Angesichts dieser Wirksamkeit scheint die Möglichkeit groß, dass Smartphones für diese Flüchtlinge dann auch in ihrer neuen Umgebung eine zentrale Rolle übernehmen.

How Do Refugees Use Their Smartphones on Their Journey to Europe? Results of a Qualitative Interview Study with Syrian Protection Seekers in Austria

In the current refugee situation, a large part of migrants reaches Europe with a smartphone in their hands. Against this background, the article addresses the question of how Syrian refugees actually use their smartphones on the journey to Europe and which personal relevance they attribute to their devices. The underlying empirical results show a plurality of use practices serving both practical aims and emotional support. Accordingly, the devices are being experienced as being indispensable on this journey. In light of this efficacy, smartphones seem to be likely to play an essential role for refugees also in their new surroundings.

Ruth Simsa

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Beiträge der Zivilgesellschaft zur Bewältigung der Flüchtlingskrise in Österreich – Herausforderungen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Im Artikel werden auf Basis einer qualitativen Erhebung im Jahr 2015 Beiträge der österreichischen Zivilgesellschaft zur Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise untersucht. Es wurden Tätigkeiten in der Erst- und Notversorgung wie auch in der Integration der Flüchtlinge dargestellt und Herausforderungen für zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre (freiwilligen) MitarbeiterInnen erhoben, mit Einschätzungen von syrischen AsylwerberInnen ergänzt und Herausforderungen für die Zivilgesellschaft diskutiert. Der Beitrag schließt mit einer gesellschaftspolitischen Einschätzung des zivilgesellschaftlichen Engagements und seiner Rahmenbedingungen.

The Austrian Civil Society in the Refugee Crisis – Challenges and Social Framework Conditions

Based on empirical research in 2015, this article assesses the role of Austrian civil society in dealing with challenges in connection with the massive influx of refugees. Services, regarding both initial aid and integration activities, were looked at closer. Also, framework conditions regarding civil society activities are being discussed. In interviews, challenges for civil society actors have been collected and then were complemented by impressions of Syrian asylum seekers. We conclude with a sociopolitical assessment of the role of civil society.

Liriam Sponholz

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Als der Sommer zu Ende ging: Die Flüchtlingsdebatte im Wiener Wahlkampf auf Facebook

Dieser Artikel hat als Ziel, die Rolle der Flüchtlingskrise im Wiener Wahlkampf 2015 auf Facebook zu analysieren. Die Wahlen fanden auf dem Höhepunkt der Krise statt, als hunderttausende Schutzsuchende, hauptsächlich aus Syrien, die europäischen Grenzen überquerten. Die Situation verwandelte Österreich über Nacht in das wichtigste Transitland nach Westeuropa und rückte Wien in den Brennpunkt des Geschehens. Auf Basis des Agenda-Building-Ansatzes und des Begriffs von Problematisierung von Habermas wurden alle Posts auf den Facebook-Seiten der fünf Parteien des Wiener Gemeindesrates und ihrer SpitzenkandidatInnen während der letzten vier Wochen im Wahlkampf einer Inhaltsanalyse unterzogen (n = 935). Die Ergebnisse zeigen, dass die Interaktionen der NutzerInnen nicht auf die Thematisierung, sondern auf die Definition von Flüchtlingen als Problem zurückzuführen sind. Polarisierung und nicht Zustimmung führte dazu, dass das Flüchtlingsthema den Wahlkampf dominierte.

As Summer Came to an End: The Refugee Issue in Vienna’s Mayoral Election Campaign on Facebook

This article aims to address the role of the refugee crisis in Vienna’s 2015 Mayoral Election campaign on Facebook. The election took place at the peak of the refugee crisis, when many thousands of people fleeing conflict regions, particularly Syria, crossed European borders in search for international protection. The situation transformed Austria into the most important transit country in Western Europe, with its capital Vienna becoming a key focal point. Based on the agenda-building approach and Habermas’ concept of problematization, all posts on the Facebook accounts of the five parties in the Viennese Parliament and their top candidates during the four weeks before election were submitted to a content analysis (n = 935). Outcomes show that the interaction of users determined the role of the refugees issue in the Vienna election campaign on Facebook. This interaction did not follow thematization, but rather the definition of refugees as a problem. Furthermore, the issue was able to dominate the election campaign not by gathering consensus against refugees, but by polarizing the debate between users.

Sieglinde Rosenberger / Miriam Haselbacher

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Populistischer Protest. Mobilisierung gegen Asylunterkünfte in oberösterreichischen Gemeinden

Im Zuge des rasant steigenden Bedarfs an Flüchtlingsunterkünften häuften sich lokale Proteste gegen die Eröffnung von (neuen) Asylquartieren. Wer initiiert und nimmt an Protestaktivitäten gegen Bundes- und Landesentscheidungen teil? Welche Mittel werden eingesetzt und welche Argumente vorgebracht? Der Artikel basiert auf einer Untersuchung von medial berichteten Protestaktivitäten gegen neue Unterkünfte in oberösterreichischen Gemeinden. Mit der Perspektive der sozialen Bewegungsforschung werden diese Proteste als kleinräumig, institutionell und populistisch ausgerichtet charakterisiert. BürgermeisterInnen initiieren und kanalisieren, BürgerInnen nehmen teil und die FPÖ dominiert die Debatte. Argumente differieren zwischen den HauptakteurInnen – BürgermeisterInnen protestieren gegen »Die-da-oben«, identitätspolitische Positionen und Deutungen werden hingegen primär von BürgerInnen und der FPÖ vorgebracht. Durch diese Proteste wird ein öffentliches Klima der Ablehnung von Flüchtlingen (re-) produziert und eine neue föderale Spannungslinie entsteht.

Populist Protest. Mobilization Against Reception Centres in Upper Austrian Communities

The growing demand for reception centres for asylum seekers in 2015, and the opening of new facilities, frequently provokes protest on the local level. Who initiates and takes part in protest activities? What repertoires and what arguments do protesters use? Based on an analysis of media reports about protest activities in municipalities in Upper Austria, this article characterizes collective actions against reception centres as small-scale institutional and populist protests. Mayors initiate protest activities, citizens participate in them and the Austrian Freedom Party (FPÖ) dominates the discourse. Arguments against the facilities vary along actors – mayors call for a democratization of decision-making processes and mobilize against »those up there«, whereas protesting citizens and the FPÖ make use of identity-based arguments reflecting the dichotomy »We against the Others«. These conflicts (re-) produce a public climate of hostility and reveal federal cleavages.

Tatjana Atanasoska / Michelle Proyer

Abstracts

Bildung mit und innerhalb von Grenzen – Herausforderungen für Flüchtlinge jenseits des Pflichtschulalters am Beispiel heterogener Schule und bildungsbezogener Übergänge

Der Ermöglichung des Zugangs zu Bildungsangeboten für Flüchtlinge stellt jene europäischen Staaten derzeit vor große Herausforderungen, die insbesondere 2015 eine größere Zahl von Flüchtlingen aufgenommen haben. Viele der Angebote sind überlaufen und es ergeben sich drängende Fragen, die über die Grundversorgung hinausgehen. Finanzielle Mittel sind beschränkt. Das österreichische Schulsystem hat es bisher innerhalb der Pflichtschule gut geschafft, für alle geflüchteten Kinder und Jugendlichen einen Schulplatz zu finden, obwohl die Anzahl der Ankommenden im letzten Jahr die Grenzen des Systems deutlich werden ließ. Jedoch ist es gerade für junge Menschen nach der Pflichtschule eine besondere Herausforderung, einen Platz im österreichischen Schulsystem zu finden. Im vorliegenden Artikel liegt der Fokus auf den subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen, die betroffene ehemalige Flüchtlinge im Hinblick auf ihren bisherigen Bildungsweg in Österreich haben. Ihre Erfahrungen wurden in Einzelinterviews erhoben und unter Verwendung von »Journey Maps« analysiert. Zusätzlich zu diesen zehn Datensätzen wurden auch Interviews mit ExpertInnen im Feld Flucht und Bildung sowie ein Gruppeninterview mit einigen Jugendlichen zu den Ergebnissen geführt. Das Ziel dieser Publikation ist eine Darstellung von möglichen Bildungswegen für junge (ehemalige) Flüchtlinge in Österreich, die wiederum Stakeholdern im Bereich Schule und Bildung als Ausgangspunkt für Entscheidungen und insbesondere systemische Verbesserungen dienen können.

Education with and within Borders – Challenges of Refugees Beyond the Age of Obligatory Schooling by Using the Examples of Heterogenuous School and Transitions Related to Education

Enabling access of refugees to education institutions causes challenges for those countries in Europe, which have accepted large numbers of refugees in 2015. Services are being saturated because of high numbers of refugees, questions regarding living and service provision (as such) become more and more pressuring. Financial means are limited. The Austrian school system has succeeded in providing for those attending compulsory education. The needs of quantities of young students with very diverse levels of educational background have made the limitations of the system however obvious. This contribution lends its voice to young former refugees. Their experiences were collected in the course of one-on-one-interviews and were then analyzed using »journey maps«. In addition to these 10 data sets, experts in the field of education and refugees were interviewed and a group discussion of the findings was conducted among some of the young people. Preliminary findings point to challenges caused by propositions of homogenization, on which the Austrian school system is based on. This publication aims at the presentation of possible ways of education for young (former) refugees in Austria, referring to stakeholders in the areas school and education as a starting point for decisions and systemic improvements.