Heft 3 / 2020: "Widerständigkeit"

Markus Pausch

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Ist es gar eine Revolution? Nein, Sire, es ist eine Revolte! Vom demokratischen Urmoment und seinen Folgen an den Beispielen Fridays for Future, Gelbwesten, Extinction Rebellion und Black Lives Matter 

Als Ludwig XVI. im Juli 1789 vom Sturm auf die Bastille erfahren hat, soll er gefragt haben: „Ist es gar eine Revolte?“ Worauf sein berühmter Garderobier La Rochefoucauld geantwortet haben soll: „Nein, Sire, es ist eine Revolution.“ 230 Jahre später erleben wir in Europa und anderen Teilen der Welt wieder Zeiten des politischen Protests, aber diesmal ist es umgekehrt. Wir haben es bei einigen großen sozialen Bewegungen der Gegenwart bisher eher mit einer Revolte zu tun, die im Gegensatz zur Revolution mit friedlichen Mitteln für ihre Ideale kämpft. Der vorliegende Artikel legt zunächst theoretisch und mit Rückgriff auf Albert Camus die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Formen des Protests dar und versucht anschließend eine Zuordnung vier aktueller sozialer Bewegungen: Fridays for Future, Gelbwesten, Extinction Rebellion und Black Lives Matter. Dabei werden jeweils  ihre Ausgangspunkte (demokratischen Urmomente), Ziele, Methoden im Kontext von Dialog- und Gewaltbereitschaft sowie die Solidaritätsdimension untersucht.

Is this a Revolution? No, Sire, it is a Revolt! About the Primal Democratic Moment and its Consequences in the Cases of Fridays for Future, Yellow Vests, Extinction Rebellion and Black Lives Matter 

When Louis XVI heard about the storming of the Bastille in July 1789, he is said to have asked: “Is this a revolt?” To which his famous dresser La Rochefoucauld is said to have replied: “No, Sire, it is a revolution.” 230 years later, in Europe and other parts of the world, we are again witnessing periods of political protest, but this time it is the other way around. At least in some major social movements of the present we have so far been more likely to see a revolt, which struggles for its ideals with peaceful means. This article begins by setting out, theoretically and with reference to Albert Camus, the differences and similarities between these two forms of protest, and then attempts to classify four current social movements: Fridays for Future, Yellow Vests, Extinction Rebellion and Black Lives Matter. In each case, their starting points (democratic primal moments), goals, methods in the context of dialogue and readiness to use violence, as well as the solidarity dimension are being examined.

Nora Schröder

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Die „Troublemaker“ – Widerständiges Handeln als Akt der Bürger*innenschaft 

Der Artikel untersucht den Widerstand gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP als „Akt der Bürger*innenschaft”. Europäische Bürger*innenschaft gewinnt gerade in herausfordernden Zeiten besondere Bedeutung, die oftmals im Narrativ einer „demokratischen Krise” der Europäischen Union zusammengefasst werden. Meine Forschungsergebnisse zeigen, dass politischer Widerstand das Potenzial hat, zur Politisierung und Demokratisierung der europäischen Politik beizutragen. Ich analysiere die Anti-TTIP-Proteste und ihren wachsenden Widerstand und untersuche darin die verschiedenen Arten, sich im politischen Handeln als europäische Bürger*innen zu verhalten. Anstatt vorgegebenen Kriterien (guter) europäischer Bürger*innenschaft zu folgen, soll der Artikel dazu beitragen, die Vielfalt von Bedeutungen von Bürger*innenschaft hervorzuheben, die Europa mit neuen Arten des Seins und Handelns als europäische Bürger*innen bereichern.

The „Troublemakers“ – Resistance as Act of Citizenship

The article draws upon the case of the Anti-TTIP-protests as an example for an “act of citizenship”. The topic of a European citizenship gains special relevance in a moment of challenges often being described as a “democratic crisis” that the European Union is facing these days. My findings suggest that political resistance has the potential to contribute to the politicization and the democratization of European politics. Analyzing the example of the Anti-TTIP-protests in a moment when resistance was triggered and rapidly growing, I explore the different ways in which protestors enact themselves as European citizens, instead of following top-down understandings of what a (good) European citizen is or should be. The article attempts to contribute to highlight this multiplicity of meanings ascribed to European citizenship, and to enrich EUrope with new ways of being and acting as European citizens.

Rainer W. Alexandrowicz / Christian Bendl / Michael Katzlberger / Barbara Liegl / Martin Reisigl / Anna-Laura Schreilechner

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Counter-Bot: Künstliche Intelligenz im Einsatz gegen rassistische ‚Hasspostings‘? 

Rassistische Kommentare im Internet nutzen in dialogischen Auseinandersetzungen häufig das Spannungsfeld zwischen Legalität (Meinungsfreiheit) und Illegalität (strafrechtliche Bestimmungen). Antirassistische Gegenrede kann das Bewusstsein dafür schärfen, dass hetzerische und/oder erniedrigende Inhalte Werten wie Menschenwürde, Vielfalt und Respekt entgegenstehen. Das Forschungsprojekt Counter-Bot möchte Erkenntnisse für die zukünftige Entwicklung eines Systems künstlicher Intelligenz (KI) liefern, das rassistische Postings identifizieren und geeignete Gegenrede (counter speech) hervorbringen kann. Das Projekt geht auf die Problematik der verbalen Online-Diskriminierung in Form sogenannter ,Hasspostings‘ ein, die sich zwar auf der Ebene von individuellen Kommentaren manifestiert, jedoch in gesellschaftliche Strukturen eingebettete Gewalt und Diskriminierungen sichtbar macht. Diese Problematik fordert zu antidiskriminierender Widerständigkeit heraus, die Formen der kommunikativen Auseinandersetzung als Dialog oder Konfrontation annimmt. Durch gezielte Diskursintervention soll ein Veränderungsprozess in Gang gebracht werden, der zur Selbstreflexion einlädt oder zur Umformulierung bzw. Löschung von rassistischen Kommentaren führt.

Counter-Bot: Artificial Intelligence Against Racist Online ‘Hate Speech’? 

Racist posts on social media often make use of the thin line between legality (freedom of speech) and illegality (criminal law provisions), a line which is highlighted by those countering such utterances. Antiracist counter speech can raise awareness that inflammatory and/or degrading utterances violate values such as human dignity, diversity and respect. The research project Counter-Bot aims at providing insights for the future development of a system of artificial intelligence (AI) to identify racist posts on social media and generate suitable counter speech. The project addresses the problem of verbal online discrimination (‘hate speech’), which, by manifesting itself on the level of individual utterances, reveals violence and discrimination embedded in social structures. The problem online ‘hate speech’ invites to engage in anti-discriminatory resistance, which can either result in a constructive dialog or in confrontation. As a form of resistance, a deliberate discourse intervention aims at initiating a process of change that leads to a more reflective behaviour of the posters or to the reformulation or deletion of racist online posts.

Sigrid Kroismayr

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Dynamiken des Protests bei Schließungen von kleinen Volksschulen in Österreich 

Der Artikel untersucht, wie politische EntscheidungsträgerInnen in Landgemeinden mit Protesten der lokalen Bevölkerung umgehen, wenn eine Kleinschule in einem Ortsteil geschlossen wird. Empirische Basis sind 14 qualitative Interviews mit BürgermeisterInnen, die die Schulschließung in einem Ortsteil der Gemeinde in die Wege geleitet haben. Die Ergebnisse zeigen, dass die Art der Kommunikation eine wesentliche Rolle spielt, wie dieser Prozess abläuft. In den meisten Fällen ist es BürgermeisterInnen durch Gespräche gelungen, Akzeptanz für die Schließung zu erreichen. Bedingungen dafür waren sowohl gut vorbereitete Argumente als auch ausreichend Zeit für die Abwicklung der Schließung. Sehr konfliktbehaftete Schließungsprozesse weisen in dieser Hinsicht deutliche Versäumnisse auf. Allerdings hängt die Intensität des Widerstands auch davon ab, wie stark das Zusammengehörigkeitsgefühl der lokalen Bevölkerung ist.

Dynamics of Protests Regarding the Closing of Small Primary Schools – Evidence from Austria 

This article sets out to understand the dynamics between the political representatives (particularly the mayor) and the village population in rural municipalities, where a small primary school was closed. The results are based on fourteen qualitative interviews with mayors who have initiated the closing of the local village school, and where there is still one remaining school in the main town. It is shown that communication plays a key role in how the process develops. In most cases the mayors managed to make the school closure acceptable to the local population, particularly where reasonable arguments were put forward and enough time for discussions and negotiations was provided. In contrast, a lack of preparation was observed in conflict-ridden closure processes. Moreover, we found that the strength of the protest was also linked to the level of feeling of unity of the local population.

Zoltan Peter / Ina Wilczewska

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Weltbeziehungen – Ein Offenheits- und Toleranzkompass von Jugendlichen 

Der Artikel liefert einen zusammenfassenden Einblick in die theoretische und methodologische Basis eines neu entwickelten Ansatzes für die Erforschung von Offenheit, Resonanz und Toleranz. Dabei werden die wichtigsten Ergebnisse einer anhand dieses Ansatzes durchgeführten Studie präsentiert. Es wurden quantitative Daten von 455 Schüler*innen aus drei Wiener Schulen in Hinblick auf deren Offenheit für liberale und religiöse Werte untersucht. Weiters wurden das Ausmaß ihrer Vorurteile und ihre Präferenzen für unterschiedliche Toleranz-Typen inklusive ihrer Zusammenhänge mit Kontextvariablen analysiert. Es wurden auch drei themenzentrierte Interviews durchgeführt, die einen Einblick in die Beschaffenheit der Toleranz- und Resonanztypen gewähren. Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Jugendlichen sehr offen ist und die mit Demokratie gut vereinbare Respekt-Toleranz präferiert. Diese Einstellungen hängen u. a. eng vom Ausbildungsgrad und Erziehungsstil der Eltern sowie von der Kulturbeflissenheit der Jugendlichen ab.

Relations to the World – An Openness and Tolerance Compass of Adolescents 

The article provides a comprehensive insight into the theoretical and methodological basis of a newly developed approach for researching openness, resonance and tolerance, and presents the most important results of a study carried out by using this design. Quantitative data from 455 students from three Viennese schools were examined with regard to students’ openness for liberal and religious values. Furthermore, the extent of students’ prejudices as well as their preferences for different tolerance types, including their relationships with context variables, were analyzed. Also conducted were 3 topic-centered interviews, which provide an insight into the nature of tolerance and resonance types. The findings show that the majority of adolescents are very open and prefer a compatibility with democracy respect tolerance. These attitudes closely depend on their parents’ educational level and their parenting style as well as on the cultural capital of the adolescent.