Heft 1 / 2020: "offenes Heft"

Gunther Tichy

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Der Mittelstand unter Druck? 

Aufgrund einer Analyse der Einkommensschichtung sieht die OECD den Mittelstand gefährdet und schrumpfen. Diese Diagnose ist bedenklich, weil der Mittelstand weniger durch Einkommens- als durch soziologische Kriterien charakterisiert ist, die die OECD nicht untersucht. Abgesehen davon hielt sich die Einkommens-Mittelschicht in Österreich überdurchschnittlich gut. Die Diskussion um die Zukunft des Mittelstands ist wichtig, leidet aber an konzeptueller Klarheit bezüglich der Kriterien der Abgrenzung. Vom werteorientierten traditionellen Mittelstand wird neuerdings ein Bildungs- und Fortschritts-getriebener neuer Mittelstand unterschieden. Die Politik verwendet gerne einen unklaren breiten Mittelstandsbegriff, der auch den unternehmerischen Mittelstand der Unternehmen mit bis zu 500 Beschäftigten umfasst. Gefährdet ist am ehesten der traditionelle Mittelstand, der unter den Druck des neuen Mittelstands geraten ist. Angesichts der Heterogenität müsste eine Mittelstandspolitik gruppenspezifisch differenziert werden.

The Middle Class Under Pressure? 

As a result of an analysis of income-classes, the OECD concluded that the middle class is squeezed and under pressure. This conclusion, however, is questionable, as the middle class is characterized more by sociological criteria, which the study completely neglects. Furthermore, the middle class in Austria turns out to be under less pressure than in other OECD countries. The discussion on the future of the middle class is important, but suffers from a confusion of terms. One never knows the criteria that are applied for demarcation. The value oriented traditional middle class is recently being separated from the education-driven and progress-driven new middle class; policy prefers an encompassing definition, comprising enterprises up to 500 employees. >Squeezed< is primarily the traditional middle class, which came “under pressure” by the new middle class. Given the heterogeneity of the middle class, policy must be group-specific.

Lisa Schwaiger

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Selbstoptimierung zwischen Lifestyle und Kontrolle. Motive und Grenzen der digitalen Optimierung des Lebens junger Männer in Österreich 

Selbstoptimierung mithilfe technologischer Innovationen gewinnt in Zeiten des Neoliberalismus zunehmend an Bedeutung. In diesem Beitrag wird die Frage bearbeitet, wo Männer, als primäre Zielgruppe von Self-Tracking-Tools, aus subjektiver Sicht Grenzen dieser Digitalisierung des Alltags ziehen. Im Zuge dieser Fallstudie wurden narrative Interviews in Österreich geführt, die zwei Falltypen hervorbrachten: Während ein erster Falltyp eine starke Abgrenzung im Hinblick auf Digitalisierung von Lebensbereichen abgesehen von Sport zieht, ist ein zweiter Falltyp gekennzeichnet von Affinität und Neugier gegenüber Innovationen. Bei beiden Typen fällt das paradoxe Verhältnis zwischen einer routinierten Datenaufzeichnung und einer gleichzeitigen Ablehnung von Datenspeicherung und sozialer Kontrolle auf, wenngleich der zweite Typ diese häufig durch den persönlichen Nutzen-Aspekt relativiert.

Self-optimization Between Lifestyle and Control. Reasons and Limits of the Digital Optimization of Young Men’s Lives in Austria 

In times of neoliberalism, self-optimization, using technological innovations, became part of everyday-life. Especially men represent a target group of so-called self-tracking-tools. The focus of this article is to determine subjective limits, where men stop logging data. For this purpose, narrative interviews were conducted in Austria. As a result, two types could be identified. Type 1 refuses to log data for all aspects of life, with the exception of activities related to sports. In contrast, type 2 is characterized by a high affinity and curiosity for innovations in technology. Paradoxically, both types routinely record data but refuse external data storage and control, even though type 2 relativizes this aspect due to personal benefits resulting from data logging.

Liriam Sponholz

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Der Begriff „Hate Speech“ in der deutschsprachigen Forschung. Eine empirische Begriffsanalyse 

Hate Speech erfährt im deutschsprachigen Raum seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 eine enorme Aufmerksamkeit. Diese Konjunktur des Themas rückt auf der einen Seite das Problem in den öffentlichen Fokus, trägt aber auch dazu bei, dass der mehrdeutige Begriff noch mehr an Konturen verliert, was negative soziale und politische Folgen zeitigen kann. Auch die deutschsprachige Forschung hat sich des Themas angenommen. Was aber bedeutet der Begriff „Hate Speech“ in der deutschsprachigen Forschung? Wird die ursprüngliche Definition aus der critical race theory übernommen oder wird mit unterschiedlichen Begriffen gearbeitet? Basierend auf  Sartoris Ansatz der Begriffsanalyse (1984) werden diese Fragen anhand einer Inhaltsanalyse akademischer Texte, in denen der Begriff auftaucht und die im Zeitraum von 1994 bis 2018 erschienen, geprüft (n = 213). Die Ergebnisse zeigen, dass „Hate Speech“ mehrdeutig verwendet wird, obwohl der ursprüngliche Begriff aus der critical race theory in der deutschsprachigen Forschung Eingang findet. Hauptgrund hierfür ist die Gleichsetzung mit online harassment bzw. mit Dysfunktionen in der Online-Kommunikation.

The Concept “Hate Speech” in German-speaking Research. An Empirical Conceptual Analysis 

Since the so-called “refugee crisis” of 2015, the concept of “hate speech” has been in the spotlight in German-speaking countries. On the one hand, this development brought more attention to the problem, but on the other hand, it also has led to a greater loss of clarity surrounding this already polysemic concept, which, in turn, unleashed an array of social and political consequences. This article aims to investigate what “hate speech” in German-speaking academic research means: Are the researchers applying the same definition, coined originally by the critical race theory, or are they working with different concepts? Sartori’s approach to conceptual analysis (1984) was utilized for a content analysis of German-language academic texts published between 1994 and 2018 (n = 213). Results show that although the concept of critical race theory is being widely mentioned, the term “hate speech” was employed ambiguously in the German-speaking academic research. The main problem stems from the confusion between hate speech and online harassment.

Wolfgang Aschauer

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Zur Analyse und Erklärung antimuslimischer Ressentiments in Österreich. Die Dynamiken islamkritischer Haltungen unter besonderer Berücksichtigung religiöser Einstellungen 

Terroristische Anschläge, Fluchtbewegungen aus Krisenregionen sowie Integrationshürden für muslimische Zugewanderte nähren europaweit Ängste vor dem Islam, wobei MuslimInnen vielfach allzu verallgemeinernd als Angehörige einer Gegenwelt, die mit dem Westen als nicht kompatibel erscheint, betrachtet werden. Im vorliegenden Beitrag werden die Ergebnisse einer repräsentativen Studie (Sozialer Survey Österreich 2018) präsentiert, die erstmals eine differenzierte Erhebung antimuslimischer Ressentiments beinhaltet. Zusätzlich erfolgt über ein elaboriertes Strukturgleichungsmodell eine Pfadanalyse, um die Dynamiken der islamkritischen Haltungen unter besonderer Berücksichtigung religiöser Einstellungen und Praktiken der ÖsterreicherInnen nachzuzeichnen. Analysiert man das Ausmaß antimuslimischer Ressentiments in Österreich, so wird eine dominant kritische Sichtweise deutlich. Vielschichtig sind jedoch die Einflüsse religiöser Orientierungen: Während konventionelle religiöse Praktiken und abergläubische Haltungen Animositäten verstärken, bewirken inklusive religiöse Haltungen und individuelle Praktiken der Spiritualität tolerantere Haltungen. Aktuelle Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Österreich betreffen also weniger das interreligiöse Miteinander, sondern kreisen viel stärker um Fragen der Anerkennung, Identität und Zugehörigkeit.

Towards a Deeper Explanation of Anti-Muslim Sentiments in Austria. The Drivers of Critical Attitudes Towards Islam with a Special Focus on Religious Attitudes 

Terrorist attacks, refugee movements from crisis regions as well as barriers against the integration of Muslim immigrants lead to an increase in anti-Muslim sentiments throughout Europe. Muslims are often generalized as being members of a counter-world that appears incompatible with the West. In this article the results of a representative study (Social Survey Austria 2018) are presented, which includes, for the first time, a sophisticated scale on attitudes towards Muslims. In addition, a complex structural equation model is being used for path analysis in order to trace the dynamics of potential prejudices with a special emphasis on religious attitudes and practises. An analysis of the extent of anti-Muslim sentiments in Austria reveals a dominantly critical view. However, the influences of religious orientations are manifold. While conventional religious practices and superstition increase a criticism against Muslims, inclusive religious attitudes and practices of spirituality result in more tolerant attitudes. Current challenges for social cohesion in Austria, therefore, concern less interreligious coexistence, but revolve much more around questions of recognition, identity and belonging.

Melanie Schaur / Angela Wegscheider

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Daheim oder Heim? Wohnen und Selbstbestimmt Leben für Menschen mit Behinderungen in Österreich 

Der Bereich Wohnen in der Behindertenhilfe, der in den Bundesländern unterschiedlich gestaltet ist, kennt stationäre, mobile, assistierende und monetäre Leistungen. Der vorliegende Artikel präsentiert die Ergebnisse einer vergleichenden Studie zu diesen Leistungen in Oberösterreich, Steiermark, Kärnten, Tirol und Vorarlberg. Mit Hilfe einer Dokumentenanalyse wurden der gesetzliche Rahmen und mit einer Sekundärdatenanalyse die Leistungen für die Jahre 2008 bis 2016 verglichen. Forschungsziel war es, auszuloten, in welche Richtung sich die Wohn- und Assistenzleistungen in den einzelnen Ländern entwickelt haben. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Entwicklungen in der Ausgestaltung und im Angebot nicht zwingend mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention einhergehen. Die unterschiedliche Aufbereitung der Sozialberichte bewirkte eine prekäre und unvollständige Datensammlung, die den Vergleich der rechtlich ähnlich gestalteten Leistungskategorien erschwerte. Das stationäre Angebot war in Oberösterreich und in Vorarlberg rückläufig, für die Steiermark, Kärnten und Tirol waren keine Daten für Zeitverlaufsanalysen verfügbar. Das Budget für stationäre Leistungen sank in den betrachteten Bundesländern, während jenes für mobile, assistierende und monetäre Leistungen zunahm. Die Entwicklungsanalyse zeigte, dass der Prozess der De-Institutionalisierung, d. h. die Verringerung stationärer Wohnformen, schleppend und langsam vor sich geht.

Care for a Living or Life in Care? Housing and Independent Living for Persons with Disabilities in Austria 

In the area of housing for persons with disabilities, which is structured differently in the Austrian Länder, there exist stationary, mobile, assistive and monetary services. This article presents the results of a comparative study on these services in Upper Austria, Styria, Carinthia, Tyrol and Vorarlberg. The legal framework was compared by using a document analysis and the performance of services, in the years 2008 to 2016, was then contrasted with a secondary data analysis. The research objective was to explore the way in which housing and assistance services in the individual Länder have developed. The results indicate that developments of the designs and offers do not necessarily converge with the demands of the UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities. The different formats of social reports led to precarious and incomplete data collections, which made it difficult to compare legally similar services. The number of recipients of residential care declined in Upper Austria and Vorarlberg, while no data for time course analysis were available for Styria, Carinthia and Tyrol. The budget for residential care declined in the reviewed Länder, while the available funds for mobile, assistive and monetary services increased. The development analysis showed that the process of de-institutionalization, i. e. the reduction of residential care, is slow.